Das Thema „E-Mental-Health“ und die damit einhergehenden Möglichkeiten zur internetbasierten Beratung und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen werden die Gemeindepsychiatrie in den kommenden Jahren immer stärker begleiten. Dies wurde auf der zweiten Fachtagung zu diesem Thema deutlich, die der Dachverband Gemeindepsychiatrie zusammen mit der MVZ Pinel gGmbH am 10. Mai 2017 in Berlin veranstaltete.
Auf der Veranstaltung widmeten sich die Referenten und rund 50 Teilnehmer Chancen und Risiken beim Einsatz von digitalen Medien in der Gesundheitsversorgung. Fragestellungen waren u.a.: Inwieweit kann Online-Beratung ein Bestandteil unserer Gesundheitsversorgung werden? Kann sogar eine Behandlung über digitale Medien erfolgen? Welche Qualitätskriterien müssen die eingesetzten Programme erfüllen? Welche wichtigen Fragen zum Datenschutz sind zu klären?
Auch für die ärztliche Fachgesellschaft und die Psychoterapeuten - Kammer hat E-Mental-Health einen hohen Stellenwert. Deshalb zählten auch Dr. Iris Hauth, Past President der DGPPN und Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer zu den Referenten dieses Tages.
Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Expertenrunde, die unter Einbeziehung der TeilnehmerInnen der Veranstaltung zum Stand der Dinge und zum zukünftigen Einsatz von E-Mental-Health resümierte. Die Runde setze sich aus den Vertretern der Fachgesellschaften und der Ärzteschaft zusammen, sowie Vertretern der Forschung. Ein besonderes Augenmerk setzen wir dabei auf die Beteiligung von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung.
Dr. Thomas Floeth, Vorstand Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V., Köln
Thomas Pirsig, Referent Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V., Köln
Marius Greuèl, Geschäftsführer MVZ Pinel gGmbH, Berlin
Marius Greuèl erinnerte in seinem Impulsvortrag an die Anwendungsbeispiele internetbasierter Programme der Krankenkassen, die auf der letzten Tagung vorgestellt wurden sowie an die damaligen Diskussionsschwerpunkte: Die Grenzen der internetbasierten Anwendungen und Versorgungsansätze, die Selbstbestimmung und Autonomie der Nutzer sowie der Datenschutz. Zudem machte er auf die große Bandbreite von Anwendungsmöglichkeiten und Einsatzgebieten von E-Mental-Health aufmerksam, die von der Prävention über die Behandlung bis hin zur Nachsorge und dem Selbstmanagement der Patienten gehe. Bei den eingesetzten Technologien reiche die Spanne vom therapeutischen Kontakt über E-Mail, Text- oder Videochat bis hin Webseiten, Programmen oder mobile Apps. Herauszufinden, was an der Vielzahl an möglichen Angeboten in der Behandlung sinnvoll und wirksam ist und in die Regelversorgung übertragen werden kann, sei die zentrale Aufgabe für die Zukunft. Als Beispiel dafür, dass sich derzeit etwas bewegt, nannte Greuèl die Anerkennung der Online-Sprechstunde – derzeit nur zur Nachsorge – im Einheitlichen Bewertungsmaßstab der Kassenärztlichen Bundesvereinigung seit dem 1.4.2017.
Karsten Knöppler, Geschäftsführer fbeta GmbH, Berlin
Technische Aspekte und Einsatzgebiete der oft ganz unterschiedlichen Arten von E-Health-Anwendungen erklärte Karsten Knöppler. Einige der Kernaussagen seines Vortrags: Für erste innovative Technologien sind produktive Anwendungsfälle im Bereich von Digital Health identifiziert und pilotiert. Eine flächendeckende produktive Anwendung ist noch nicht erfolgt – derzeit sei die neue Technik immer noch hauptsächlich in der Verwaltung und nicht in der Versorgung zu finden. Der Markteintritt des überwiegenden Teils der technologischen Innovationen ist mit großen Erwartungen verbunden. Die flächendeckende produktive Anwendung ist jedoch –insbesondere im ersten Gesundheitsmarkt –für die meisten Technologien noch nicht erfolgt. Als bislang größte Hürde für die neue Technik nannte er den Nutzennachweis und die Vergütung beim Einsatz der Anwendungen.
Prof. Dr. Harald Baumeister, Leiter der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Ulm
Prof. Dr. Harald Baumeister führt an der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Ulm und in Kooperation mit der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg eine Studie zum Thema "blended therapy" durch, also der Verzahnung von face-to-face und Internet- und mobilbasierten Interventionsansätzen. In der Studie wird die Integration von internetbasierten Behandlungsansätzen in die klassische Therapie vor Ort untersucht werden. Dazu wurde eine Online-Umfrage eingerichtet, die sich an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten richtet. Abgefragt wurden ihre Einstellungen gegenüber und ihre Vorstellungen zur möglichen Einbindung von Online-Interventionselementen in ihren klinischen Alltag. In Zukunft, so Baumeister, müsse das Feld noch intensiver beforscht werden, um aussagekräftige Ergebnisse zu Akzeptanz und Wirksamkeit zu erhalten.
Dr. Jan Moeck, Rechtsanwalt, Berlin
Zu rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit E-Mental-Health-Interventionen äußerte sich im Anschluss Dr. Jan Moeck, Rechtsanwalt aus Berlin. Eine Fernbehandlung über das Internet hält er generell für möglich: Der rechtliche Rahmen der Berufsordnung für Psychotherapeuten, der besagt, dass eine Behandlung im „persönlichen Kontakt“ stattfinden müsse, schließe eine Fernbehandlung nicht aus, wenn ärztliche und auch datenschutzrechtliche Sorgfaltspflichten gewahrt bleiben. Zudem ging es um die wichtige und oft schwierige Abgrenzung der internetbasierten Angebote zwischen „Behandlung“ in Form von Diagnosestellung und individuellen Therapievorschlägen sowie der „Beratung“, also allgemeinen Informationen zu psychotherapeutischen Themen.
Dr. Rita Bauer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
Dr. Rita Bauer stellte das Online-Therapieprogramm „deprexis 24“ vor, dass derzeit von der DAK eingesetzt wird und dessen Wirksamkeit durch zahlreiche Studien bewiesen sei. Ziel ist es, Betroffene schnell, gezielt und ortsunabhängig zu unterstützen. Angesprochen werden Patienten mit einer leichten bis mittelschweren Depression. Nutzer können das Programm am PC oder mobilen Endgeräten nutzen und damit lernen, wie sie konkret mit negativen Gedanken umgehen, wie sie sich bewusst entspannen können oder welche Übungen es gibt, um gelassener zu werden. Deprexis sei kein Ersatz für einen Psychotherapeuten, aber es helfe dabei, die oft lange Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken, so Bauer. Der Therapeut kann sich zudem mit der „Cockpitfunktion“ nach Zustimmung des Patienten in das Programm hinzuschalten.
Dr. Iris Hauth, Past President DGPPN, Berlin und Ärztliche Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Berlin
Zu den notwendigen Qualitätskriterien internetbasierte Interventionen referierte Dr. Iris Hauth. Programme wie MoodGym oder der TK-DepressionsCoach hätten sich als wirksam erwiesen, sind für Nutzer aber tendenziell eher schwierig auffindbar. Insgesamt fehlte eine einheitliche Bewertung zur Identifizierung wirksamer und kosteneffizienter internetbasierter Interventionen für Verbraucher und Krankenkassen. Angesichts der Flut von unkontrollierten Lifestyle- und Medizin-Apps auf Google- und Applegeräten, die sich auch mit psychischen Erkrankungen beschäftigen, sei es wichtig, verbindliche Qualitätsstandards für Programminhalte und die medialen Vermittlung festzulegen.
Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Berlin
Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, befasste sich ebenfalls mit Fragen der Qualitätssicherung und sprach darüber hinaus die Möglichkeiten Implementierung von E-Mental-Health-Programmen in die Regelversorgung an. Zur Qualität der Programme müsse für einen Zulassung als Medizinprodukte durch Zertifizierung sichergestellt werden. Dazu brauche es eine verbesserte Regelung für Klassifikation und Risikobewertung von Software geben. Wirksame Onlineprogramme müssen allen Versicherten zur Verfügung stehen – dazu bedürfe es Aufnahme in die Regelversorgung durch Schaffung einer neuen Produktklasse im Hilfsmittelverzeichnis. Munz vertrat außerdem den Punkt, dass die hohen Anforderungen an Datensicherheit und Datenschutz der Telematikinfrastruktur auch für audiovisuelle Kommunikation zwischen Patienten und Psychotherapeuten gelten müsse. Hersteller müssten verpflichtet werden, Sicherheitslücken zeitnah zu beheben und sollten bei Verstößen haftbar sein.
Am Nachmittag kamen Prof. Dr. Harald Baumeister, Dr. Iris Hauth, Dr. Dietrich Munz zu einer von Marius Greuèl moderierten Podiumsdiskussion zusammen. Ebenfalls mit am Tisch saß die Psychiatrie-Erfahrene Sybille Prins, die die Perspektive der Betroffenen auf die Digitalisierung der psychiatrischen Versorgung deutlich machte und viele wichtige Impulse gab.
In einer Zeit, in der soziale Beziehungen immer virtueller würden, gehe der Trend zum Digitalen Ihrer Meinung nach an vielen psychisch erkrankten Menschen vorbei. Sie forderte deshalb ein „Recht auf digitale Teilhabe“, damit Betroffene nicht noch weiter abgehängt werden. Gleichzeitig warnte Sie vor den Risiken, die die Sammlung von immer mehr persönlichen Daten mit sich bringen. Gerade bei intimen Informationen sei es wichtig, zu klären, wer Zugriff darauf haben darf: Der Staat, Krankenkassen, der Arbeitgeber? Außerdem warnte sie vor der Nutzung unsicherer Kommunikationskanäle wie Whatsapp oder Skype zu vertraulichem Austausch über psychische Erkrankungen, landeten die Daten doch dadurch bei großen Konzernen.
Nützlich könnten für Betroffene die sogenannten Smart-Home-Geräte sein, die mit dem Menschen kommunizieren und im Alltag helfen könnten – so etwa ein Ankleidespiegel, der einen depressiven und antriebslosen Menschen an die Dinge erinnert, die er erledigen sollte. Andererseits stellte Sie die Frage, ob dies überhaupt wünschenswert sei, biete doch solche Technik auch die Gefahr einer neuen Form der Bevormundung.
Auch das Thema „Arbeit 4.0“ und die Digitalisierung des Arbeitsmarkts beschäftigte Prins. Es müsse darüber nachgedacht werden, was mit den vielen analogen Jobs geschehe, die psychisch Kranke heute oft noch in Werkstätten ausüben – fallen Sie weg, werden sie modernisiert oder entstehe so etwas wie ein „umfriedeter Retrobereich“?
Zur Nutzung von internetbasierten Gesundheitsprogrammen und –Apps meldete die Psychiatrie-Erfahrene ebenfalls Kritik an: Die Anwendungen könnten zum „verlängerten Arm“ des Therapeuten werden und man müsse sich fragen, ob man dies als Betroffener will. Außerdem müsse man beachten, dass lese- und schreibintensive Programme viele psychisch Kranke ausgrenzen könnten. Es müsse also zwingend eine Betroffenenbeteiligung bei der Entwicklung und Anwendung geben, um ihre Perspektiven und Wünsche miteinzubeziehen. Ganz grundsätzlich machte sich Prins auch Sorgen darüber, welche ungewollten Türen die Digitalisierung im Allgemeinen und E-Mental-Health-Programme im Speziellen öffnen könnten: Drohen Überwachung, Zwang und Sanktionierung, wenn Krankenkassen und Ärzte das Verhalten des Menschen aus der Ferne kontrollieren und dieser nicht das gewünschte Verhalten zeige?
Mit der Diskussion endete eine spannende Veranstaltung, die laut Marius Greuèl zeigte, dass technisch und medizinisch viele Innovationen im Bereich E-Mental-Health in der Entwicklung und Erprobung ist. Angetrieben werde der Prozess auf der einen Seite durch das Interesse von Medizin und Krankenkassen, effizienter zu arbeiten und Versorgungslücken zu füllen. Technologieunternehmen sähen darin vor allem einen neuen und lukrativen Markt. Wichtig sei, dass die Qualität und Wirksamkeit von Anwendungen garantiert wird und die Probleme des Datenschutzes sowie die Perspektive der Betroffenen mitgedacht werden. Außerdem sollten Insellösungen einzelner Krankenkassen langfristig vermieden werden – alle Versicherten sollten von E-Mental-Health durch eine Überführung in die Regelversorgung profitieren können.