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Fachpolitische Konkretisierung für die Handlungsempfehlungen des Kontaktgesprächs Psychiatrie

„Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil- Komplexe Hilfen in der Lebenswelt sichern!“

Ausgangssituation

In Deutschland wachsen gegenwärtig circa 3,8 Millionen Kinder und Jugendliche mit mindestens einem psychisch- oder suchterkrankten Elternteil auf. Aufgrund der vielfältigen Folgen einer elterlichen Erkrankung, die meist das gesamte Familiensystem betreffen, sind sowohl die Kinder als auch die erkrankten Eltern auf fachlich qualifizierte Beratung, Behandlung, Betreuung und multiprofessionelle Hilfen angewiesen.
Die krankheitsbedingt häufig eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychisch Erkrankten und der hochschwellige bürokratische Zugang zu Hilfen tragen dazu bei, dass betroffene Eltern vorhandene Unterstützungsmöglichkeiten nicht in Anspruch nehmen können oder keine für sie passenden Angebote finden. Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil tragen ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, selbst psychisch zu erkranken.

Es fehlen flächendeckende, regional verankerte und regelhaft angebotene präventive Hilfs- und Unterstützungsangebote.

Der Deutsche Bundestag hat den seit vielen Jahren geführten fachlichen Diskurs aufgegriffen und im Juni 2017 einstimmig den Antrag „Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern“ (Bundestagsdrucksache 18/12780) beschlossen. Damit soll zukünftig eine bessere Versorgung der betroffenen Familien sichergestellt werden. Um den Handlungsbedarf zu identifizieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten, wurde gefordert eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzuberufen, die sich mit den verschiedenen relevanten Themenfeldern beschäftigen soll. Die Arbeitsgruppe soll im Sommer 2019 Handlungsempfehlungen für die Bundespolitik vorlegen.

Die im Kontaktgespräch Psychiatrie zusammenarbeitenden Verbände weisen die Sachverständigenarbeitsgruppe und die beteiligten Ministerien darauf hin, dass bei der Entwicklung von Handlungsempfehlungen die folgenden Problemlagen zu berücksichtigen sind:

  • Der geltende Rechtsrahmen geht an den komplexen Hilfebedarfen von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil vorbei.
  • Es bedarf einer Gestaltung der Anschlussfähigkeit der SGB V, SGB VIII sowie SGB IX/XII
  • Es ist ein Merkmal für viele Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil/Eltern, dass es ein eingeschränktes Hilfesuchverhalten sowie diskontinuierliche Bedarfslagen gibt – bislang gibt es keine Angebote die „mitschwingen“.
  • Es bedarf verbindlicher Regelungen zu Vorhaltekosten und zu flexiblen Unterstützungsleistungen.
  • Aktuell sind flexible und niedrigschwellige Hilfen durch die Versäulung der Sozialgesetzbücher verhindert.
  • Es bedarf eines Kooperationsgebotes für Familien mit einer psychischen Erkrankung, nicht nur im SGB VIII, sondern auch im SGB V, SGB VI und SGB IX/XII.
  • Leuchtturmprojekte von Trägern der Gemeindepsychiatrie und der Kliniken verlagern das finanzielle Risiko der unterschiedlichen Leistungsvereinbarungen der SGB´s auf die Träger.
  • Es bedarf einer Anpassungsregelung in Bezug auf die Leistungsvereinbarungen an den Schnittstellen der SGB´s

Die im Kontaktgespräch Psychiatrie zusammenarbeitenden Verbände fordern folgende strukturelle Veränderungen auf den Ebenen der Gesetze und Richtlinien auf Bundesebene:

  • Berücksichtigung und Benennung des krankheitsbedingt, eingeschränkten Kommunikations- und Hilfesuchverhaltens in Bezug auf die Antragswege der Jugendhilfe
  • Berücksichtigung der Wechselwirkung von Teilhabebarrieren und individuellen Einschränkungen psychisch erkrankter Eltern – Klienten die keine Hilfe anfordern, erhalten keine, dies widerspricht aber dem Unterstützungsbedarf psychisch erkrankter Eltern
  • Fokussierung auf Bedarfe der Familie als Verantwortungs- und Lebensgemeinschaft und der Bedeutung ihres emotionalen Angewiesen Seins statt auf ausschließlich individuelle Rechtsansprüche bezüglich einzelner Leistungen
  • Gestaltung eines niedrigschwelligen Zugangs zu den Hilfen – Klärung der Verantwortlichkeit
  • Sichtbarkeit der Bedarfe von Kind und Familie in Gesetzen, Richtlinien (GBA), Rahmenvereinbarungen auf Bundesebene sowie in Präambeln der Behandlungsleitlinien
  • Aufbau von verbindlichen Netzwerkstrukturen, mit einer Bundes- und Landeskoordinierungsstellen analog den Frühen Hilfen
  • Klärung der Vorrang-Nachrangregelungen (SGB VIII, SGB V, SGB XII/IX ) in Bezug auf Elternunterstützung
  • Abfrage, Berücksichtigung und Dokumentation der elterlichen Situation in allen Behandlungssettings und Qualitätsmanagementsystemen
  • Schaffung von alternativen Orten für Krisen, Verbesserung der stationären Krisenintervention sowie Schaffung von flächendeckenden Krisendiensten für psychisch erkrankte Eltern mit konzeptioneller Berücksichtigung der Kinder (Information, Kontakt, begleitete Wiederaufnahme des Kontaktes bei Ende der Krise)
  • Überführung der guten Erfahrungen im Rahmen der besonderen Versorgung nach § 140 a SGB V in die Regelversorgung
  • Aufbau von Angeboten der psychiatrischen häuslichen Krankenpflege § 37 SGB V für psychisch erkrankte Eltern

Gesetze und Richtlinien auf Landesebene, Landesrahmenverträge:

  • Finanzierung von Lotsen – flächendeckende Umsetzung der Soziotherapie gem. § 37 a SGB V, Aufhebung des seit vielen Jahren andauernden Stillstandes
  • Schneller Zugang zu Haushaltshilfen gem.§ 38 SGB V und § 20 SGB VIII Festlegung eines vereinfachten Antragsverfahrens bei KK und Jugendamt
  • Landesrahmenvereinbarungen im Rahmen der Nationalen Präventionsstrategie zur Unterstützung regionaler interdisziplinäre Hilfenetze

Kommunalen Rahmenbedingungen, Richtlinien und Leistungsvereinbarungen:

  • Beteiligung der Krankenkasse im Rahmen von Präventionsprogrammen an der Finanzierung kommunaler Netzwerkstrukturen sowie an resilienzfördernden Programmen für Kinder und erkrankte Eltern
  • Vereinbarung einer verlässlichen längerfristigen Finanzierungsperspektive für regionale Netzwerke
  • Kommunale Unterstützung lebensweltorientierter, SGB übergreifend arbeitender Trägerorganisationen aus Gemeindepsychiatrie, Suchthilfe und Jugendhilfe
  • Verankerung von Patenschaften in Leistungsvereinbarungen der Hilfen zu Erziehung
  • Etablierung und Finanzierung einer Zusammenarbeitsverpflichtung mit der Jugendhilfe im SGB V, SGB IX/XII bei entsprechenden Bedarfen

Die im Kontaktgespräch Psychiatrie zusammenarbeitenden Verbände fordern in den nächsten 3 Jahren als nächste Schritte auf der Bundesebene:

1. Verbindliche Definition der krankheitsbedingten wesentlichen Teilhabeeinschränkungen und Einschränkungen im Hilfesuchverhalten psychisch erkrankter Eltern im SGB IX/XII
Unterstützte Elternschaft als qualifizierte Assistenz mit Fachkraftgebot – Klärung der Vorrang/Nachrangregelung SGB II/SGB V/SGB IX

2. Sicherung der Finanzierung der kontinuierlichen Vernetzung aller beteiligten Professionen auf regionaler Ebene
Einbeziehung der Möglichkeiten des Präventionsgesetzes zur Schaffung von kommunalen Hilfenetzwerken im Rahmen des Settingansatzes

3. Verankerung des Themas in den Qualitätsmanagementsystemen von Jugendhilfe, ambulanter und stationärer Psychiatrie, Schwangerschaftsberatung, Frühen Hilfen sowie in Kitas und Schulen
Etablierung eines Kooperationsgebotes mit entsprechenden Ressourcen im SGB V und IX/XII

4. Prävention in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien stärken
Dabei ist auch die elterliche Situation im Rahmen von Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen. Notwendige Stärkung der elterlichen Kompetenzen sowie eine Verbesserung des Umgangs mit der psychischen Erkrankung sollen als Präventionsziel in der Lebenswelt Kommune verbindlich verankert werden. Für die Kinder sollen ebenfalls Präventionsmaßnahmen etabliert werden die den Fokus auf eine Stärkung von Resilienz legen. Sie sollten den Kontakt zu anderen Kindern und Paten stärken und einer sozialen Isolation vorbeugen.

5. Gemeinsam Verantwortung übernehmen und Zusammenarbeit stärken
Für eine gelingende ganzheitliche Prävention ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen, Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe, Gemeindepsychiatrie und Gesundheitswesen unabdingbar.
Die Stärkung dieser Zusammenarbeit gilt es aktiv flächendeckend im Bundesgebiet zu fördern und die Krankenkassen, die Kommunen sowie die Rentenversicherungsträger aktiv zur Beteiligung zu gewinnen.
Mindestens eine Präventionsfachkraft in jeder Kommune oder jedem Landkreis, möglichst angestellt bei einem regional gut verankerten Träger von Jugendhilfe, Gemeindepsychiatrie und Krankenversorgung, die in der Lage ist, die notwendigen Komplexleistungen zu organisieren und die Netzwerkarbeit der spezifischen hoch- bzw. niedrigschwelligen Versorgungsangebote aus unterschiedlichen Sozialleistungssystemen zu koordinieren.

6. Start der vom Parlament beschlossenen Aufklärungs- und Entstigmatisierungskampagne über psychische Erkrankungen 2019 – 2024 für die Bevölkerung und die Fachkräfte.
Bereitstellung der notwendigen finanziellen Mittel in angemessenem Umfang im Bundeshaushalt 2020.
Die in diesem Feld tätigen ambulanten und lebensweltorientierten gemeindepsychiatrischen Verbände und Trägerorganisationen sind bei der Umsetzung adäquat zu beteiligen.

7. Etablierung einer qualitätsgestützten Weiterbildungsinitiative „Komplexe Hilfebedarfe in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil“ die sich auf den aktuellen Forschungsstand bezieht u.a. von Erzieher*innen, Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Ärzt*innen, Kinderärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Psycholog*innen.
Sie benötigen Handlungswissen und Handlungskompetenzen auch in Bezug auf die Erfordernisse interdisziplinärer Zusammenarbeit, um diese Zielgruppe zu erkennen und bedarfsgerecht zu unterstützen.
Die Verbände des Kontaktgesprächs Psychiatrie begrüßen und unterstützen den Beschluss des Bundestages, die Situation von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil zu verbessern.

Die Verbände des Kontaktgesprächs Psychiatrie fordern die Bundesregierung deshalb auf, den Bundestagsbeschluss umgehend und vollständig umzusetzen.

Köln,  Mai 2019
Gez.
Verbände des Kontaktgesprächs Psychiatrie
AWO Bundesverband
BAPK Familienselbsthilfe Psychiatrie
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie e.V.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
Diakonie Deutschland