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Bürger und Irre: Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Psychiatrie-Reform

von Arnd Schwendy

Es wäre zu kurz gegriffen, die Reform der westdeutschen Psychiatrie seit Ende der 1960er-Jahre primär oder allein als Projekt der Experten zu sehen. Dieses Vorhaben konnte nur so viel Schubkraft und Wirkung erzielen, weil sich historisch gleichzeitig mehrere Bewegungen gegenseitig befruchteten – mit allen dazugehörigen Konflikten. Ihr gemeinsamer Nenner war eher ein bürgerrechtlicher Anspruch als ein fachliches Idealkonzept: nämlich die Beseitigung der nationalen Schande des Elends der psychisch Kranken, die nach dem Wiederaufbau als düstere Wolke am strahlenden Himmel des Wirtschaftswunderlandes schwebte.

Mehrere Strömungen verbanden sich in den 60er- und 70er-Jahren zu einem starken Fluss, der die verkommenen Großanstalten der Psychiatrie unterspülte:

  • die Konzepte international orientierter Psychiater, die im Ausland erfahren hatten, was zeitgemäße Lebenshilfe für psychisch Kranke bedeuten kann
  • die aus der Studenten-Rebellion mit ihrem Kampf gegen den "Mief seit tausend Jahren unter den Talaren" aufbegehrt und dabei die Schattenseiten der reichen Republik entlarvt hatten
  • die Mitarbeiter der Kliniken, die unter den inhumanen Bedingungen und der bizarren Hierarchisierung in den Asylen genauso litten wie die Patienten
  • und schließlich die Bürger, die als freiwillige Helfer in dem Sumpf der Großkrankenhäuser – oft gemeinsam mit Krankenhausseelsorgern – verzweifelt versuchten, Mitmenschlichkeit hinter die Schlagbäume und Gitter der Anstalten zu tragen.

Mehr Demokratie wagen

Ermutigt konnten sie alle sich fühlen durch Willy Brandt, der in seiner ersten Regierungserklärung der SPD-FDP-Koalition 1969 rief: "Mehr Demokratie wagen!" Hernach erklärte er die 70er-Jahre zum "Jahrzehnt der Rehabilitation Behinderter".
Das Unbehagen an der westdeutschen Psychiatrie hatten vor allem die beiden Heidelberger Professoren Häfner und Kisker in einer Denkschrift Ende der 60er-Jahre formuliert. Mit der Diagnose eines "Nationalen Notstandes" lieferten sie dem Bundestag die Legitimation, sich in die Länderkompetenz für Psychiatrie einzumischen.
Die öffentliche Stimmung dafür hatte der Autor Frank Fischer 1969 vorbereitet. Sein Buch "Irrenhäuser. Kranke klagen an", das die unglaublichen Zustände hinter den Mauern schilderte, wirkte wie ein Fanal. Das mediale und politische Echo auf diesen Erfahrungsbericht eines Pädagogen, der in einer Anstalt gearbeitet hatte, war überwältigend. Es stärkte sensiblen Politikern wie dem hessischen CDU-Bundestagsabgeordneten Walter Picard den Rücken.
Picard, von Hause aus Pädagoge, hatte sich im Bundestag als Finanzexperte einen Namen verschafft. Beharrlich und mit großer moralischer Überzeugungskraft schmiedete er ein fraktionsübergreifendes Bündnis für die Einsetzung einer Psychiatrie-Enquete. Vorsitzender wurde Prof. Caspar Kulenkampff, der an der Universitätsklink Frankfurt/Main schon in den 60er-Jahren die erste deutsche Tagesklinik als sozialpsychiatrisches Pilotprojekt gegründet hatte. Die Zusammensetzung der über 200-köpfigen Enquete-Kommission war eine Herausforderung an die "Götter im weißen Kittel", denn ihr gehörten auch Pfleger, Psychologen, Ergotherapeuten und Sozialarbeiter an, als Signal dafür, dass zeitgemäße Hilfe nur interdisziplinär, eben sozial-psychiatrisch geleistet werden kann.
Nach Frankfurt wurde Kulenkampff Ordinarius in Düsseldorf und Ärztlicher Direktor des mit der Universität verbundenen Landeskrankenhauses. Kurz danach ergriff er die Chance, administrative Gestaltungsmöglichkeiten zu erlangen: Er ließ sich zum Gesundheitsdezernenten des Landschafts-
verbands Rheinland (Sitz Köln) wählen. Der LVR war damals der größte Träger psychiatrischer Anstalten. Kulenkampff machte ihn zum Flaggschiff der Reform, konnte freilich nicht verhindern, dass die vielen Millionen, die man bereitstellte, nicht auch im Rheinland primär in die Restaurierung und Modernisierung der Anstalten flossen. Immerhin gelang es ihm, eine Reihe von psychiatrischen Abteilungen an den Krankenhäusern der Grundversorgung zu bewilligen. Als das im Gesundheitsausschuss des LVR von Kommunalpolitikern, die um "ihre" Anstalten bangten, scharf kritisiert wurde, wechselte Kulenkampff vom abgehobenen, stets elegant um Konsens bemühten Fach-Sprech auf Klar-Text: "Dass es in Städten wie Duisburg, Essen, Oberhausen keine Betten für psychisch Kranke gibt, ist schlichtweg eine Sauerei!" Diese Botschaft verstanden auch Nicht-Fachleute.
Durch die Vorarbeiten zur Enquete war ein Bündnis zwischen Politikern und politisch aktiven Psychiatern entstanden. Dies führt 1971 zur Gründung der "Aktion psychisch Kranke e.V.". Der Bund übertrug ihr die Kommissions-Arbeit, eine Sachwalterschaft, die die APK bis heute hartnäckig und kompetent wahrnimmt.

Irren ist menschlich

Schon ein Jahr zuvor hatten sich Mitarbeiter/innen verschiedenster Berufsgruppen nach ersten Treffen im "Mannheimer-Kreis" zur "Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie e.V." zusammengeschlossen. Das theoretische und praktische Wissen lieferten der Psychiater und Soziologe Prof. Dr. Klaus Dörner und die Psychologin Ursula Plog mit dem Lehrbuch "Irren ist menschlich".
Es wies den Weg zu einem respektvollen Miteinander von Therapeuten und Patienten und wurde ein Bestseller mit Wirkung weit über die Psychiatrie hinaus. Ein weiterer Mitgründer, der Heidelberger Psychiater Dr. Niels Pörksen, warb mit seinem Buch "Kommunale Psychiatrie" für die Verbindung von Sozialpsychiatrie und Gemeinwesenarbeit. Er hatte dies in den USA kennengelernt und in Mannheim erfolgreich praktiziert.
Die DGSP stellte auf allen Ebenen eine kritische Öffentlichkeit her, sehr zum Verdruss derer, die die alten Anstalten "im Interesse der chronisch Kranken, die doch draußen keine Chance haben", um jeden Preis erhalten wollten.

1980 rief die DGSP erfolgreich zu einer Sternfahrt nach Bonn auf. "Löst die Anstalten auf" lautete die Parole. Über 8.000 reisten an: Fachkräfte, Angehörige, Patienten, engagierte Bürger. Niemand von ihnen verstand, warum das, was Franco Basaglia und seiner Bewegung im armen Italien gelungen war, nicht auch in Deutschland funktionieren könnte.
Ebenfalls entschieden gemeindepsychiatrisch orientiert, aber pragmatisch und nicht so radikal wie beispielsweise einige sozialpolitische Arbeitskreise an Hochschulen, die sich auch antipsychiatrisch positionierten, agierten die pychosozialen Hilfsvereine. Schon im 19. Jahrhundert hatte es im Bürgertum zum guten Ton gehört, sich in einem Hilfsverein für die nächstgelegene Irrenanstalt zu engagieren, vor allen Dingen durch Spenden. Diese Vereine erlebten in der Enquete-Ära eine Renaissance. Sie dienten als Mantel für Zusammenschlüsse von Mitarbeitern und Bürgerhelfern (damals noch herabsetzend Laienhelfer) genannt. Durch ihre Wiederbelebung oder Neugründung boten sich gleich zwei Chancen: Zum einen konnten sie Besuchsdienste und Kontaktmöglichkeiten draußen schaffen, um den Patienten die Enthospitalisierung zu erleichtern. Zum anderen konnten sie Öffentlichkeitsarbeit betreiben, vor Ort auf Mängel hinweisen und deren Beseitigung fordern. Und dies ohne Maulkorb durch die Anstaltsleitungen, denn die Vereine waren frei, zudem drohten ohnehin kaum Kündigungen für "Nestbeschmutzer", da Arbeitskräfte – vor allem Ärzte – knapp waren.

Aufstieg der Hilfsvereine

Anfang der 70er-Jahre rief der Essener Journalist Jürgen Thebrath zum Beispiel in der "Westdeutschen Allgemeinen" die Essener Angehörigen dazu auf, gemeinsam mit Bussen ins 120 km entfernte Landeskrankenhaus Bedburg-Hau an der holländischen Grenze zu fahren, um ihre Kranken dort zu besuchen und gegen diese Aussonderung aus der Heimatstadt zu demonstrieren. In Essen gab es nur wenige psychiatrische Betten. Aus dieser Initiative entstand der Verein "Essener Kontakte e.V.". Freiwillige organisierten Treffpunkte in Essen für entlassene Patienten und unterstützten Patienten, die wieder in ihre Heimatstadt wollten. Finanziert durch Arbeitsbeitsschaffungsmaßnahmen, konnten auch zwei Fachkräfte eingestellt werden. Schritt für Schritt wurde ein Nachsorge-System ausgebaut.

Hunderte derartiger Vereine entwickelten sich in jenen Jahren; sie sind heute die Basis der außerklinischen Versorgung, beschäftigen zuweilen über hundert Mitarbeiter und werben in ihren Städten und Kreisen für die Idee, dass psychisch Kranke nicht ausgesondert werden dürfen. Nebenbei sind sie ein Beleg dafür, dass durch kluge Beschäftigungspolitik nachhaltige Wirkungen zugunsten des Gemeinwohls entstehen können; ein Gedanke, der nach den Hartz-IV-Reformen allzu schnell in Vergessenheit geriet.

Die Hilfsvereinigungen vernetzten sich zunehmend bundesweit, sehr zum Schrecken der Ewiggestrigen unter den Anstaltsleitern. Ihr Versuch, einen Zusammenschluss unter ihre Kontrolle zu bringen, wurde abgeblockt. 1976 wurde der "Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen e.V." in Bonn unabhängig von Anstalts-Direktiven gebildet. Damit war der zweite Gründungsversuch geglückt. Bereits im Jahr zuvor hatte Prof. Reimer, Landeskrankenhaus Weinsberg in Baden-Württemberg, versucht, die Hilfsvereine "in den Griff zu bekommen". Er hatte bundesweit zur Gründung eines Dachverbands eingeladen, die Rechnung jedoch ohne den aufmüpfigen Geist der Initiativen gemacht. Diese lehnten seine Vorschläge vehement ab und wählten aus der Mitte der Teilnehmer ein Gründungskomitee, das dann die in Bonn verabschiedete Satzung entwarf. Nach der Gründungsphase wählten die Mitglieder später die Stuttgarter Volkskundlerin Dr. Inge Schöck zur Vorsitzenden. Ihr Credo war der Bürger, der sich doppelt einsetzt: einmal als persönlicher Begleiter der Kranken im Alltag, um Normalität herzustellen; zum anderen als politischer Anwalt derer, die ihre Interessen (noch) nicht selbst vertreten können. Mit der zunehmenden fachlichen und betriebswirtschaftlichen Professionalisierung und das Wachstum der Vereine, die immer mehr Trägeraufgaben (Kleinheime, Beratungsstellen, Tagesstätten, Integrationsfirmen) übernahmen, wurden die freiwilligen Helfer bedauerlicherweise immer mehr an den Rand gedrückt.

Selbsthilfe der Familien und Patienten

Kompensiert wird der Rückgang der Bürgerhilfe seit 1985 durch Bildung des "Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker" in Bonn. Er vereinigte die zahlreichen örtlichen Selbsthilfegruppen von Angehörigen und einige bereits entstandene Landesverbände. Die jahrelange Gründungsphase wurde vom Dachverband moderiert und gefördert. Erste Vorsitzende dieses Zusammenschlusses wurde Hildegunt Schütt, eine Mutter von sieben Kindern, darunter eines, das psychisch krank wurde. Sie und ihre Mitstreiterinnen im Vorstand entwickelten den Angehörigen-Verband zu einer kraftvollen und kreativen Selbsthilfe- und Lobby-Organisation. Priorität hat die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder in örtlichen Gruppen. Von der Fachwelt wird (bis heute mit begrenztem Erfolg) die Achtung und Einbeziehung der Angehörigen eingefordert. Gesundheitspolitisch kämpfen die Angehörigen – bis heute weitgehend vergeblich – für Rund-um-die-Uhr-Krisendienste.

Gründungstagung des BPE in Bedburg-Hau

Erst einige Jahre später gelang es – wieder durch Begleitung des Dachverbands –, endlich der wichtigsten Gruppe eine bundesweite Plattform zu schaffen, nämlich den Patienten. Nach dem Vorbild vieler Selbsthilfegruppen im Gesundheitswesen hatten auch psychisch Kranke Gruppen gebildet; sie wollten sich eigenständig in die Auseinandersetzungen um die Zukunft und Vergangenheit der Psychiatrie einbringen. Im Gegensatz zu den Angehörigen legten sie daher großen Wert auf Distanz zu den Professionellen, nur handverlesene psychiatrisch Tätige waren bei den Vorbereitungstreffen willkommen.
Sie gaben sich den Namen "Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen e.V.", um damit deutlich zu machen, wer über Expertise verfügt. Ihre Forderung ist – bei aller Radikalität mancher Äußerungen – erfrischend lebensnah. Wer das System weiterentwickelt, ohne ihre Hinweise zu beachten, liegt schief. Wegweisend ist vor allen ihre EX-IN-Bewegung, bei der ehemalige Patienten zu Genesungshelfern ausgebildet werden. Es wächst zum Glück die Zahl der Kliniken und Träger, die diesen Experten Arbeit und Tariflohn bieten.

Basis der Gemeinwesenarbeit

In Kreisen und Städten, in denen die Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften (PSAGs) nicht durch überängstliche Ämter bürokratisch erstickt wurden, haben alle hier skizzierten Gruppierungen Mitspracherechte: Fachleute aus den Einrichtungen und Wohlfahrtsverbänden, Bürgerhelfer, Angehörige, Psychiatrie-Erfahrene.
Die Idee zu diesen träger- und fachübergreifenden Plattformen brachte Prof. Horst-Eberhard Richter in die Enquete-Empfehlungen ein. Ohne diese Klammer zwischen den diversen kommunalen Ämtern für Gesundheit, Soziales, Jugend und Schule, den Einrichtungen und Diensten der freien Träger, den Fachleuten, Angehörigen, Betroffenen und Bürgerhelfern konnte Richter sich eine gemeinde-integrierte Versorgung mit starker Prävention und Emanzipation nicht vorstellen. Er machte daher die Zustimmung der von ihm vertretenen Psychotherapeuten zur Enquete von der PSAG-Empfehlung abhängig. Er legte damit das Fundament für eine bis heute wirksame zivilgesellschaftliche Prägung der Hilfen für psychisch Kranke und ihre Familien.

Arnd Schwendy leitete nach 13-jähriger Tätigkeit als Redakteur der NRZ Neue Rheinzeitung von 1973 bis 1978 die Pressestelle beim Landschaftsverband Rheinland. Von 1978 bis 1983 war er bei der Stiftung Rehabilitationin Heidelberg, danach fünf Jahre Geschäftsführer des Dachverbands. Anschließend wechselte er zur Stadtverwaltung Köln, zunächst als Psychiatriereferent, dann als Leiter des Sozialamts. Er war Mitglied der Expertenkommission der Bundesregierung zur Umsetzung der Psychiatrie-Enquete. Seit seiner Pensionierung 2002 engagiert er sich insbesondere für Integrationsfirmen und mischt sich gerne und kompetent in sozial- und psychiatriepolitische Diskussionen ein.